Die Stille
(Alpina 10/2007)
«Stille» heisst das Thema der Oktober-Nummer unserer Zeitschrift
«Alpina». Was soll man zu diesem Thema schreiben? Am liebsten hätte ich diese
Seite einfach leer gelassen. Das war mein erster Gedanke. Die leere Seite,
auf der alles möglich ist, alles inbegriffen ist, was geschrieben werden
kann und noch viel mehr und mehr und mehr…Die Stille schliesst nichts aus,
kein Geräusch, noch nicht einmal Lärm. Sie ist der offene Raum, die
Unendlichkeit, das Tao, in dem alles ist und aus dem alles entsteht und in
den alles zurückkehrt im selben Moment.Wenn wir bereit sind, auf die Stille selbst zu hören und nicht nur auf das,
was in ihr erscheint, wenn wir uns des unendlichen Raumes bewusst bleiben
und nicht nur die Phänomene des Innen und Aussen wahrnehmen, die allesamt
vergänglich, allesamt leer an eigener Substanz sind, dann stehen wir in
Staunen und Ehrfurcht da und erkennen uns als das, was immer ungetrennt war
von der Unendlichkeit, von der Liebe, vom reinen Bewusst-Sein, von der
wahren Natur des Geistes. Es gibt Menschen, die haben Angst von der
Stille. Sie fürchten sich und sprechen von Grabesstille oder Todesstille.
Sie sind es nicht gewohnt, angesichts der Töne und Geräusche, die ständig
auf uns eindringen, plötzlich innezuhalten und absolut ohne
Umgebungsgeräusche zu sein und zu leben. Wir Freimaurer brauchen die Stille,
um auf die Stimme in uns zu hören. Der Neophyt erlebt die Stille schon vor
seiner Aufnahme in der Kammer des Stillen Nachdenkens. Er wird in der
verdunkelten Kammer eine Stunde allein gelassen um sich zu sammeln, mit sich
ins Reine zu kommen oder auch, um den Entschluss Freimaurer zu werden,
nochmals zu überdenken. Meistens hat er in der dunklen Kammer nur eine
Kerze, einen Totenschädel, ein Blatt Papier, und ein Schreibzeug zur
Verfügung, um seine Gedanken aufzuschreiben. Absolute Stille herrscht.
In meiner Loge hat sich der Brauch, vor jeder Arbeit eine Minute des
Schweigens, der Stille einzulegen, gut eingelebt. Die Brüder möchten das
nicht mehr missen. Sie erhalten so Gelegenheit, sich auf die kommende Arbeit
einzustellen, alles Profane, den Stress des Alltags und auch Sorgen und
Probleme abzuschalten und sich in stiller Meditation zu sammeln.
Wir kennen auch bei den Toasts an der Tafelloge den «stillen
Trinkspruch». Wenn wir nach einem Trinkspruch die «Batterie» zelebrieren,
das heisst das Drei-mal-drei in die Händeklatschen, schlagen wir auch
dreimal dreimal mit der flachen Hand auf das abgestellte Glas. Das ist eine
uralte, schon den Römern bekannte Sitte, um auf der Höhe der Festfreude als
«Memento mori» der Toten zu gedenken. Der «stille Trinkspruch» ist die
Ehrung der verstorbenen Brüder.
Als Freimaurer haben wir allen Grund, hin und wieder still zu sein, auf
die innere Stimme zu hören, die äusseren Einflüsse von uns fern zu halten.
Das geschieht in der Regel im Tempel während einer rituellen Arbeit. Wir
brauchen die Stille!
Alfred Messerli |