Die Werkzeuge des Freimaurers
(Alpina 4/2009)
Was soll man über die Werkzeuge eines Freimaurers
schreiben? Eine theoretische Abhandlung oder doch
eher eine humanistisch- philosophische Skizze über
den Bau am Tempel der Humanität? Nichts dergleichen:
Die Freimaurerei ist alltäglicher als man denken
mag. Neulich fuhr ich im Zug durch die Schweiz.
Dabei hatte ich ein Sandwich in der Hand und wollte
– aus Rücksicht auf die Mitfahrenden – selbiges im
Zugdurchgang essen. Als die Kondukteurin kam und
mich darauf hinwies, dass ich mich hier im
1.Klasse-Bereich befinden würde und mit dem
2.Klasse-Billet keine Legitimation hätte, war ich
zuerst sprachlos. Eilfertig, als ob sie glücklich
darüber wäre, auch gleich eine rechtliche Grundlage
nachschieben zu können, unterrichtete sie mich
lehrerhaft, dass die 1.Klasse von Waggon-Puffer zu
Wagon-Puffer gelte. Aha?! – Welch Hohn! 1.Klasse im
Durchgang und dann erst noch diese Pedanterie! Ich
protestierte – zuerst etwas ungläubig, dann etwas
verärgert bis letztlich vehement. Diese
Kleinlichkeit musste doch einfach eine Gegenkraft
erfahren! Als mir dann in der Heftigkeit der
Auseinandersetzung die Zeitungen auf den Boden
fielen, bot sie mir ihre Hilfe an, die ich
unmissverständlich und schroff zurückwies. Ich
verlangte ihren Namen und wollte mich bei ihren
Vorgesetzten beschweren. In Zeiten der schieren
Kundenorientiertheit würde das schon seine Wirkung
entwickeln, dachte ich maliziös. Als dann einige
Zeit verging und ich auf einen anderen Zug
umgestiegen war, lichtete sich langsam der Vorhang
meiner blinden Empörtheit und ich begann
nachzudenken. War dieser Mensch grundsätzlich stur
und unfähig, sich auf diese Situation einzustellen?
Verlange ich zu viel Flexibilität von meinen
Mitmenschen? Kenne ich ihre Ängste und Probleme
bevor ich sie für ihr Verhalten verurteile?
Vermutlich nicht. Und genau da könnte mir das
freimaurerische Werkzeug helfen: der Zirkel, um mein
Verhalten und meine Einstellung zur Bruderschaft und
zur Menschheit zu ordnen. Der rechte Winkel, um die
Gerechtigkeit und Menschlichkeit nie aus dem Augen
zu verlieren – wissend, dass es die absolute
Gerechtigkeit nicht gibt. Ferner ist da noch das
Senkblei. Betrachten wir das Senkblei eines anderen
aus unserer Position, erscheint es uns schief,
obschon es senkrecht hängt. Es ist folglich alles
eine Frage der Prespektive. Und so habe ich mich
wieder an diese Eigenschaften erinnert und diesen
Menschen so genommen wie er war, denn auch ein
kantiger, nicht geometrisch exakt bemessener Stein
kann in eine Steinmauer eingepasst werden – mehr
noch: die Stärke und Stabilität wird erst noch
grösser dadurch.
Adrian Bayard
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