Die Bedeutung von Zahlen in Ritualen
(Alpina 5/2010)
Philolaos von Kroton, der älteste Schüler
des Pythagoras’, soll einst über die Zahl
folgendes gesagt haben: «sie ist das herrschende
und unerschaffene Band des ewigen
Beharrens der innerweltlichen Dinge; sie
beruht nicht auf Satzung, sondern sie ist von
Natur aus in den Dingen vorhanden» (Lennhoff,
Posner, Binder, internationales Freimaurer
Lexikon). Ist die Zahl wirklich von
Natur aus gegeben? – Das Kleinkind kennt
höchstens dieEins – das ein und alles – etwa
ab dem Moment, wo es das Ich oder «mir»
erlebt. Allenfalls kennt es noch die Zwei als
Einheitmit der Mutter. Und auch dasnur aus
Erfahrung oder Gespür, nicht als logische,
universelle Eigenschaschaft. Die Null wird
höchstens als Nichts im Sinne einesMangels
erfasst; Eltern oder Grosseltern können sich
dieswohl nur allzu leicht inErinnerungrufen.
Die Zahlen als Zeichen erschliessen wir
uns deutlich später – ebenso das Zählen.
Das bedeutet, dass wir Zahlen erst nach
und nach durch Sozialisation kennenlernen
und deren Zeichen als Symbole des
Gelernten in unseren Erfahrungsschatz
aufnehmen. Der Gehalt vonZahlen erfährt
im Laufe eines Menschenlebens diverse
Erweiterungen und somit eine Verdichtung
der Aussagekraft. Zum Beispiel starten
wir im Kindesalter bei der Null als
Nichts, in der Deutung von Mangel. Dann
wird Null als neutraler Ausdruck von
Nichts. Erst mit der Fähigkeit der Reflexion
und des philosophischen Nachdenkens
erweitert sich der Begriff (und somit
auch das Symbolzeichen) zu einer positiven
Interpretation: dem Nichts als Stille,
dem Konzentrieren auf sein Selbst und
dem Reduzieren des Ichs auf das Minimum.
Vor der Eins ist nur die Leere bzw.
das Nicht-Sein, der Gedanke, das letzte
Mysterium, das unfassbare Absolute. Das
Zeichen erinnert an einen geöffneten
Mund, dem das Urwort entspringt (Johannes
Evangelium: Am Anfang war das
Wort). Wir sind umgeben von der Null,
beispielsweise in der Informatik. Kein
Computer käme ohne 0 oder 1 aus. Kein
Bonus ohne zahlreiche Nullen. Symbolisch
steht das Ouroboros, der Schwanzfresser
als Zeichen für Null, im Sinne einer
Überwindung der materiellen Welt – eine
sehr schöne Symbolik in der heutigen Zeit,
meine ich...
Adrian Bayard
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