Selbsterkenntnis
(Alpina 1/2011)

Neulich in der Gletscherspalte eingeklemmt fragte sich der Alpinist, wie gerade ihm dies geschehen konnte. Alles war still – totenstill und kalt – eiskalt. Er fragte sich, wie es jetzt wohl weitergehen würde, wie er da wieder lebendig heraus käme. Er versuchte sich zu befreien, bediente sich zahlreicher Methoden, die er früher einmal in der Ausbildung gelernt hatte. Nichts nützte: kein Krallengriff, keine Prusikschlinge; nichts half. Panik machte sich breit. Dann wieder Ruhe. Beklemmende Ruhe; nur der eigene Atmen war zu hören; und auch dieser wurde Zug um Zug schwächer. Die Gedanken dagegen wurden lauter und zahlreicher. Viele Erinnerungen machten sich wie in einem Bilderbuch auf und erstrahlten in hellem Glanz und prächtigen Farben. Wehmut schlich sich beim Alpinisten ein – ein bitterer Trank von Sehnsucht und Wünschen. Als dann die letzte Träne erkaltete und er wieder in die erbarmungslose Stille geworfen wurde, merkte er, dass seine Bilder wirr und ohne Struktur und ohne Sinn übereinander gelegt wurden. Wo war der Rote Faden? Gab es gar keine Klammergeschichte, ein Konzept dahinter? Er fror und schien sich mit seinem nahenden Schicksal abzufinden. Er fragte sich nunmehr nicht, wie er hierher geraten war, sondern was er hinterlassen würde. Worin der Sinn seines Lebens bisher bestand. Der Alpinist wunderte sich, dass er sich solche Fragen erst jetzt stellte und nicht schon früher. Ja, es hätte in der ganzen Hektik einfach zwischendurch Momente wie diesen gebraucht, wo absolute Stille die Gedanken ordnen würde und man sich seiner Stärken und Schwächen bewusst werden würde und somit sich selbst erkennen könnte. Erst auf diese Weise ist es möglich, sein Leben auch selbst, also nach eigenen Massstäben zu gestalten. Aber jetzt war es für ihn zu spät. Er wurde traurig, weil er merkte, dass er falschen und fremdbestimmten Werten nachgeeilt war und viel zu wenig auf ein eigenes Herz, seine Wünsche und Träume gehört hatte. Er fror noch mehr. Die Gedanken wurden unklarer, die Bilder verloren immer mehr an Schärfe. Was blieb, war ein leises Trauern um verpasste Gelegenheiten: eine Frau, Kinder, eine Weltreise, das Schreiben eines Buches, ein Jazzlokal und der gleichen mehr. Plötzlich fror er nichtmehr. Alleswurde still-auch seine Gedanken, auch seine Wünsche.

Adrian Bayard 

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