Dimensionen des Lesens
(Alpina 12/2011)
Beim Lesen lässt sich vortrefflich denken»
schrieb einst Leo Tolstoi. Es ist ein Zwiegespräch
zwischen Autor und Leser. Lesen formt unsere
Meinung, unser Weltbild – unser Sein. Wir lernen,
wir kombinieren und wir vernetzen unser Gehirn.
Hbn Si gnwuzt, daz ain Lesr dri Augn ht?
Ncmliah zvei öüssre and ain inres?
Als guter Leser kann man verstehen, was mit
diesem Satzgemeint ist, auch wenn kein einziges Wort
richtig geschrieben ist.
Es bereichert uns, wenn wir uns in die Unterwelt
der Bücher begeben; wenn wir wie in WalterMoers
«Stadt der träumenden Bücher» in geheimnisvollen,
verwinkelten Gängen umherstreifen und mal dies und
mal jenes Buch aus dem Regal ziehen, um es kurz
darauf brüskiert, verstört, erschreckt, erstaunt,
erfreut, beglückt oder gar elektrisiert wieder
herzugeben. Gute Bücher ziehen uns in den Bann, sie
bringen uns dazu, trotz allem oder gerade erst recht
das Buch wieder zur Hand zu nehmen und
weiterzulesen. Jedes Buch wirkt anders auf uns, weil
es aus einem anderen Kontext heraus und demzufolge
auch mit einem anderen Rhytmus und einem anderem
Wortschatz geschrieben wurde. Insofern ist auch
klar, dass ein Buch jeweils unterschiedlich auf die
verschiedenen Leser ausstrahlt, weil deren
Hintergrund und deren Stimmungen anders sind. Das
macht es auch so interessant, über ein Buch zu
diskutieren; es ist nie komplett – nie fertig.
Genauso wie es unser geistiges Leben ist:
unbeschränkt erweiterbar und dürstend nach
Anregungen. Lesen hat aber auch etwas, was wir heute
wohl als «Wellness» bezeichnen würden: Zeit, die man
sich nimmt-und Ruhe. Man liest vielwährend des
Tages, aber man geniesst ein Buch am Abend–ähnlich
einer Zigarre. Diese wird auch nicht bloss geraucht.
Da steigen Gedanken auf, tanzen mit dem Rauch,
vermischen sich, formen und winden sich, fallen ab
und erneuern sich bis der Sinn des Gaumens den
Geschmack aus der fernen Karibik zurückbringt, wo
der glühend-rostrote Boden die strahlend
saftig-grünen Tabakpflanzen behütet und gedeihen
lässt, bis diese irgendwann einmal fermentiert
werden und bei Son, Frauengelächter und «hasta
victoria siempre» ihr Dasein finden und uns
bezaubern.
Adrian Bayard
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