Wert freimaurerischer Erfahrungen
(Alpina 4/2012)

Neulich im Bahnhofbüffet sass ich da und musste ich auf den nächsten Zug warten. Ich ärgerte mich nur kurz, dass ich soeben den Zug verpasst hatte; ich wusste, dass hier in einer halben Stunde wieder einer fahren würde. Meine Entspanntheit fusste auf der Erfahrung, dass in der Schweiz die Züge pünktlich und regelmässig und vor allem wie angekündigt fahren würden. Ich trank meinen Kaffe und beobachtete jene vier Männer, die bereits um halb acht Uhr ihr drittes Bier in sich hinein gossen und bei Zigarette und lauter Stimme über die AHV sprachen als wenn sie diese noch erlebenwürden. Danach wandte sich ihr eifriges Gespräch übergangslos zu Federers letztem Sieg und Benissimo. Plötzlich verkündete eine Durchsage, dass der Zug aus Basel rund fünf Minuten Verspätung hätte und man sich dafür entschuldigen möchte. Empörung schlug auf. Fluchen und Kopf schütteln. Es sei eben schon so eine Sauerei, dass die Fahrkarten immer teurer würden und die Pünktlichkeit immer schlechter. Reden wir vom selben? Erfahrungen prägen also den Umgang mit der Gegenwart und gegenwärtigen Situationen. Sie prägen aber auch das eigene Selbstverständnis, die Sprache und den Umgang mit anderen Menschen. Insofern kommt der Erziehung schier unendliche Bedeutung zu: denn hier werden Erfahrungen kanalisiert und Leitplanken gebaut, in denen Erfahrungen stattfinden können – ein extrem normatives belegtes Unterfangen! Welche Erfahrungen lassen wir zu? Welche müssen gemacht werden? Ich glaube, wir können diese Frage nur intrapersonell beantworten. Das Wichtigste in der Erziehung könnte dannzumal darin bestehen, den jungen Menschen das freimaurerische Werkzeug in die Hände zu geben: Neugierde, Toleranz und Selbstdisziplin. So würde der Erfahrungsschatz breit und solide und würde in vielen Fällen Verständnis (nicht Gleichgültigkeit!) und Übersichtverleihen. Auch wenn die Menschen nie oder auch nur annäherungsweise die Vollkommenheit des behauenen Steins erreichen; es entsteht dennoch ein Ethos, der den fairen und umsichtigen Umgang mit der Umwelt eines jeden Einzelnen lenkt und sich als Baustein in den Tempelbau einfügt und stützt. Der Zug fuhr ein und brachte mich nach Zürich – die vier Männer übrigens auch.

Adrian Bayard 

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