Das Ritual
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Paul Rousseau[1]
Bei Tisch legen wir das Messer links, die Gabel rechts. Das Taschentuch kommt in die rechte, das Portemonnaie in die linke Hosentasche. Bevor wir das Haus verlassen, wird die Krawatte zurechtgezogen. Am Arbeitsplatz ordnen wir die Arbeitsfläche, bevor wir beginnen. Setzen wir uns im Alltag nicht oft auf bestimmte Stühle oder Bänke? Durch unser Benehmen formalisieren wir den Alltag. Die tägliche Wiederholung gewisser Vorgänge ermöglicht uns in der überdimensionalen Welt ein persönlichbezogenes Umfeld zu schaffen, das uns Sicherheit gibt. Sobald diese Geborgenheit gegeben ist, können wir ohne Schaden das Messer auch rechts legen, das Taschentuch zu Hause vergessen, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem Bus zurücklegen.
Unter gewissen Umständen wird unser Benehmen irrational, siehe pedantisch. Nehmen wir als Beispiel den Zigarrenraucher. In einem ihm geeigneten Moment öffnet er behutsam sein Etui, entnimmt diesem mit äusserster Vorsicht das von ihm begehrte rotbraune Objekt, dreht es behutsam in den Fingern, geniesst dessen Duft, schneidet gekonnt das eine Ende ab, lässt das Zündholz eine Weile brennen, zündet vorsichtig die Zigarre. Der ganze Vorgang könnte ruckzuck vor sich gehen. Doch nein! Hier herrscht nun nicht das Formale, sondern eine rituelle Handlung; sie hebt uns über den Alltag hinweg! Eine Zigarre geniessen ist keine Zigarette paffen!!!
Das Ritual der Freimaurer entspricht einem festgelegten Modus, dessen Ursprung bekannt ist oder sich in grauen Vorzeiten verliert. Am Anfang war Ritual Kultus. Lenning schreibt in seinem Handbuch[2] : „Unter Kultus sind überhaupt zu verstehen diejenigen Anstalten oder Einrichtungen, wodurch das Heilige, mag es als abstrakter Begriff oder personifiziert, gedacht werden,, dem Menschen näher gebracht, und er selbst von dem gemeinen und irdischen zu diesem Heiligen emporgehoben werden soll. Kultus ist Ahnung und Gefühl des Höheren, Annäherung an das Unsichtbare, es ist Veredlung der irdischen Natur. Da aber der Zweck des Kultus in keiner Zeit vollkommen erreicht wird, so bleibt der Kultus selbst überall und zu aller Zeit in Ehren. Je weniger der Kultus eine geheimnisvolle Sache hat, umso armseliger und unzweckmässiger wird er.“
Das Wort Ritus wird abgeleitet aus dem Sanskrit: „Rita“ steht für „Ordnung“. Einem Ritus folgen bedeutet, dem Chaos zu entfliehen und eine Ordnung zu wählen, welche es ermöglicht, nach gemeinsam festgelegten Regeln zu handeln. Im Lateinischen steht das Wort „ritus“ für Gebrauch, Zeremonie.
In den archaischen Gesellschaften glaubte man, unter strengster Durchführung des Rituals, den Kontakt mit den Göttern herzustellen und die Gunst derer Allmacht und Wohlwollen auf sich herabzurufen. Damit diese Riten Dauerbestand und Gültigkeit in alle Ewigkeit behalten, und so die Kontinuität vom Anfang der Menschheit bis zu ihrem Ende bewahren, sind sie oft mit der Warnung behaftet, keinen Deut am Inhalt noch Ablauf zu ändern. (Derselbe Siegel des Ewigen verbietet es jegliches Schriftzeichen an Tora oder Koran zu ändern.)
Irdisch bezogen sind in den archaischen Gesellschaften Riten, deren Vollzug eine soziale Komponente haben: die Beschneidung, der Übergang vom Jüngling zum Manne, die Bestattung, die Krönung eines Stammeshäuptlings, …
Ritus und Freimaurerei
„Man versteht unter Ritus die Gesamtheit der anerkannten spezifischen maurerischen Verhaltensformeln (Gebräuche, Brauchtum), insbesondere für die rituellen Arbeiten, die durch Ritualtexte der verschiedenen Ritualsysteme und durch (oft logenspezifische) Überlieferungen vorgegeben sind; zum spezifischen rituellen Brauchtum gehört, dass im Logentempel eine rituelle Zeit-Ordnung und eine rituelle Raum-Ordnung beachtet wird; die Mitglieder besitzen dort ein rituelles Alter und tragen zur symbolischen Arbeit rituelle Bekleidung. – Rituale können als Mechanismen zur Reduktion sozialer Komplexität interpretiert werden.“ Soweit die adäquateste Kurzdefinition von Bruder Dieter A. Binder über das Thema „Ritual“.[3]
Betrachten wir einmal die Loge aus der Vogelperspektive. Es ist Viertel vor sieben. Eine Anzahl gestandener Männer: Ärzte, Juristen, Professoren, Beamte versammelt sich in einem bestimmten Gebäude einer bestimmten Stadt. Die gesellige Runde wird wie von Geisterhand kurz vor sieben Uhr jäh unterbrochen. Die Männer legen ein ungewöhnliches Kleidungsstück an, dann weisse Handschuhe. Schweigsam begeben sie sich zu einem bestimmten Raum, welcher in Dunkel gehüllt ist. Hier herrscht eine, man könnte fast sagen, „sakrale“ Ruhe. Ein jeder begibt sich an seinen festgesetzten Platz im Osten, Westen, Norden und Süden. Der Sitzordnung liegt ein bestimmter Plan zugrunde, wobei der Grundriss des Raumes vom symbolischen Osten regiert wird. Hier ist der Platz des Meisters. Von ihm geht die Regie aus, deren Anweisungen er mit Hilfe seines Hammers dirigiert. Im Westen sitzen seine beiden Aufseher, so benannt, weil sie den beiden Bänken im Norden und Süden gebieten, gemäss Anweisung des Meisters. Die übrigen Anwesenden nehmen ihre Plätze ein, auf den Bänken, hier Kolonnen genannt. Fällt nun die Tür ins Schloss, wandelt sich der eben noch beseelte Raum, den Männer mit Requisiten kreuz und quer durchschritten, in einen sakralen Raum, losgelöst von allem Irdischen. Nun sind die Anwesenden von der Aussenwelt abgeschnitten. Niemand darf ohne besonderen Grund und Erlaubnis den Raum verlassen. „Sakrale Handlung“ dulden keine Unterbrechung. Während einer Theatervorstellung oder einer Konferenz wird der verspätete Eintritt eines Gastes als schmerzhaft empfunden. Ein Spätankömmling klopft auch nicht ungestüm an die Tür, wie man es bei Bekannten tun könnte. Bei den Freimaurern klopfen Spätankömmlinge nach festgelegter Art an die Pforte des Tempels, um Einlass zu bitten.
Die im Tempel Anwesenden nennen sich Brüder! Vergessen sind Nachnamen, Partikel, Titel, Berufe. Alleinig bleibt die Amtsanrede: Bruder Redner, Bruder Schaffner, … .
Alle tragen das sie vereinende Kleidungsstück: den Schurz: ob weiss oder bunt! Alle Brüder tragen weisse Handschuhe. Alle Brüder tragen das spezifische Abzeichen ihrer Loge [Bijou]. Bei hochfeierlichen Anlässen wird das vereinende Gefühl gestärkt durch das Schwarz der Anzüge und Krawatten
Die Kleidung aber macht den wahren Maurer nicht aus. Irgendwelche Person könnte, mit Schurz und Handschuhen bekleidet, den Tempel betreten. Vor den Pforten des Tempels steht ein Wachhabender, ähnlich wie vor Tanzläden der Rausschmeisser, der jeden ungebetenen Gast fernhält. In früheren massonischen Zeiten hiess dieser Bruder „Ziegeldecker“. Er fragt nicht nach Name und Vorname, Beruf und Herkunft. Er verlangt vom Eintretenden ein Passwort, so wie ein Militärposten es macht. Sollte dem Ziegeldecker die Art und Weise der gegebenen Antwort suspekt erscheinen, befragt er den Besucher nach verschiedenen Anhaltspunkten des Rituals.
Mit dem ersten Hammerschlag des Meisters beginnt für die Anwesenden ein Zeitabschnitt, den kein profanes Stundenmessgerät skandiert.
F Mein Bruder, welche Zeit ist es jetzt?
A …..
Zum Abschluss fragt der Meister erneut:
F Mein Bruder, um welche Zeit gehen die Bbr∴ von der Arbeit?
A …….
Die Sonne, „welche den Tag regiert“, und der Mond, „welcher die Nacht regiert“, stehen am Zenith, ihrer höchsten Position am Firmament. Die beiden Himmelskörper sind zu vergleichen mit den beiden Säulen, welche die Pforte zum sakralen Raume wie zwei Wächter einrahmen.
Während „des Tagesablaufs“ folgt die Arbeit einem gewissen Plan. Sowohl das nun Gesprochene, wie die Handlungen unterliegen einem festen Schema, dem sich alle Anwesenden frei unterwerfen.
besagter „Tagesablauf“ erfolgt nach dem Schema A B A.
A Feierliche Eröffnung der Loge;
B das Hauptstück eine Zeichnung,
mit ab und zu einem geschäftsführenden Vorspann;
eine konsekrierende Handlung:
- Aufnahme
- Beförderung
- Erhebung
- Lichteinbringung
- Einsetzung des Meisters
- Totenehrung;
A Feierliche Schliessung der Loge.
A B A verläuft nach Plan: dem Ritual.
Das Ritual ist nun aber keineswegs ein x-beliebiges Theaterstück! Ihm zugrunde liegt eine Legende: die Geschichte des Tempelbaus Salomons. Als im 18. Jh. Brüder sich von der Urlegende trennten, um andere Wege zu beschreiten, erfanden sie immer neue Legenden: Zum Mittelpunkt wurde der 2. Tempelbau, oder das Werden und Sterben der Kreuzritter oder, losgelöst von der Maurerei, die Köhlerei. Die Androgyne Freimaurerei (Brüder und Schwestern gemeinsam einer Loge zugehörig) besann sich auf das Paradies.
Die Legende beeinflusst dazu noch die Gesten der Anwesenden und die vorhandenen Requisiten.
Das Lehrlings-, Gesellen- und Meisterritual sind ein einziges Ganzes! Erst die Erhebung zum Meister lässt den Postulanten das ganze Lehrgebäude erkennen. Nun erst wird dem Bruder die Weite des Rituals bewusst. Es ist nicht bloss Wort, es ist nicht nur Geste: es ist die Einübung der Ethik, welche die Legende den Brüdern vermittelt. Eben diese eingeübte Ethik ermöglicht es ihnen, sich draussen vor den Toren des Tempels zum Heil der profanen Welt voll und ganz zu bewähren.
Das Ritual entspricht nicht einem Bühnengeplapper! Es bedient sich stellenweise bei Eröffnung und Schliessung der Loge dem mnemotechnischen Wortwechsel, der seit der Antike bis in die Hälfte de vorigen Jahrhunderts seine Effizienz bewahrte.
Das Frage- und Antwortspiel wird dann in den Werklogen für das Erlernen und Erklären des vollständigen Rituals benutzt. Es wird zum „Lehrgespräch“.
A Die Eröffnung der Loge
In den durch zweihundert Jahre umgebastelte, neugestaltete Ritualen geht oft die Frage nach dem Wesentlichen, dem wir entgegenstreben, verloren. Ein altes Ritual (1786 ) erläutert die Frage nach dem Ziel unseres Strebens
F Meine Brüderr, warum versammeln wir uns?
A Um Tempel für die Tugend zu errichten und Kerker für die Untugenden zu graben.[4]
Bruder Marbach schreibt in seinem Agenda zum ersten Grad 1864: „Jeder Logenarbeit muss das wesentlich aus Handlungen bestehende Ritual gleichsam als festes Knochengerüst zu Grunde liegen, aber um dieses muss sich als ein geistlicher Leib alles was gesprochen wird zur Darstellung einer schönen individuellen Gestalt an- und umlegen.“
B Das Hauptstück
Folgt nun eine Zeichnung, beinhaltet das Ritual schlicht die Einsetzung des vortragenden Bruders, die formelle Anrede des Meisters vom Stuhl sowie des Grossmeisters, die formelle Schlussfloskel und der Abgang des Redners.
Das Ritual ist ein fester Bestandteil der Freimaurerei und nicht irgendein „notwendiges Übel“ oder gar ein beachtloses Anhängsel. Carl Enders schreibt 1931: „Durch die Schönheit seiner Formen, reisst das Ritual die Brüder aus der Monotonie und der Banalität des Alltags. Sein Ziel ist es, eine besondere Atmosphäre zu schaffen. Darum werden Musikstücke vorgetragen, denn Musik ist die Kunst welche am entferntesten gegenüber den rationellen Konzepten steht. Für den Menschen gibt es nicht nur Ziffern, Logik und Denkspiele, nicht nur Gewinn und Konkurrenz, Kampf ums Überleben und Alltagssorgen. Die wahre Kultur besteht aus einem gesunden Masse von Seele und menschlichem Geiste einerseits, und dem Alltagleben anderseits. Das Ritual zwingt die anwesenden Bbr das Gleichgewicht beider Komponenten zu suchen.“
Q Pourquoi nous rassemblons-nous?
R Pour élever des Temples à la vertu, et creuser des cachots pour les vices.
Der Puritanismus gewisser protestantischer Kirchen hat jegliches Ritual verbannt. Die katholische Kirche, vor dem 2. Vatikanischen Konzil, wusste durch ein übergrosses Mass an Ritual das Volk in ihren Bann zu bringen; man denke an die feierlichen Hochämter. Das Ritual im Freimaurertempel ist ein ergreifendes Ritual, welches in einer harmonischen Umwelt stattfindet und einen sehr tiefen Eindruck auf die Brüder ausübt. Dieser Zustand erlaubt es der Seele und dem Geiste zu Höherem zu entfliehen, auf dass in allen Herzen die Gütigkeit und das Empfinden der wahren brüderlichen Liebe erweckt werden.
Vladimir Viaggi schreibt in der Encyclopédie de la Franc-Maçonnerie [5]: „Die Freimaurerriten ziehen unsichtbare Verränderungen des Äusseren nach sich, welche aber keine Inzidenz auf dem sozialen Gebiet beinhalten. Der Eingeweihte erlebt auf ganz persönliche und intime Art und Weise seine Beziehung mit dem Sakralen.“ Dies ähnelt Luthers Aussage: „Ein Jeder werde selig auf seine Art.“ Aus anthropologischer Sicht ist das Ritualerleben eines jeden Teilnehmers bedingt durch ein sehr komplexes Geflecht aus persönlicher und sozialer Geschichte, Kultur, Psychologie, Pathologie, sowie einem Fünkchen von freiem Willen. Was ein jeder Bruder im und durch den Ritus erlebt, ist etwas Unaussprechbares, Nichtkommunizierbares.
C Die Schliessung der Loge
Sie verläuft in ritueller Art und Weise im umgekehrten Sinne der Öffnung der Loge. Die Drei Grossen Lichter, die Werkzeuge, der Arbeitsteppich werden den Blicken der Brüder sowie den Profanen entzogen. Die Lichter werden gelöscht und mahnende Worte geleiten die rituellen Handlungen.
Nach der Tempelarbeit begeben sich die Brüder zu einem gemeinsamen Abendessen. Nur an Hochfeiertagen, wie die beiden Johannisfeiern, steht auch das Festmahl unter dem Zeichen eines besonderen Tafelrituals.
[1] Altstuhlmeister der vollk und ger St-Johannisloge zur Bruderkette im O Luxemburg; Grossloge von Luxemburg. Vormalig Zugeordneter Stuhlmeister der Forschungsloge Quatuor Coronati N° 808 im O Bayreuth ; Vereinigten Grosslogen von Deutschland. Meister vm Stuhl der Forschungsloge Ars Macionica ; Grande Loge Régulière de Belgique.
[2] Lenning: Allgemeines Handbuch der Freimaurerei; Leipzig, 1867, F. A. Brockhaus; S. 68
[3] Dieter A. Binder: Die diskrete Gesellschaft, Geschichte und Symbolik der Freimaurer; Graz, 1995, Edition Kaleidoskop [ISBN 3-222-12351-9]
[4] Recueil précieux de la Maçonnerie Adonhiramite, par un Chevalier de tous les Ordres Maçonniques ; Chez Philarète, rue de l’Equerre, à l’A-plomb, M. DCC. LXXXVI.
[5] Eric Saunier (dir.); La Pochothèque; Librairie Générale Française, 2000 [ISBN 2-653-13252-7]
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