Alpina 5/2002
In der ganzen freimaurerischen Literatur findet man zum Begriff der
Mässigung (Modestia) oder der Bescheidenheit praktisch nicht. Ist die
Bescheidenheit nicht eine typisch freimaurerische Tugend? Im Ritual findet
sich allerdings im ersten Grad ein Hinweis: «Wer seine Gedanken, Worte und
Handlungen noch nicht durch Mässigung geregelt hat, der darf sich dem Tempel
der Gerechtigkeit nicht nahen. Nur durch Mässigung enthält sich der Mensch
dessen, was ihn verderben und von der Wahrheit entfernen kann.»
Für Kant war Bescheidenheit: Mässigung in Ansprüchen, das ist:
freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines Menschen durch die
Selbstliebe anderer. Für Lessing galt: «Alle grossen Männer sind bescheiden.
»Und Lichtenberg meinte zur Bescheidenheit: «Die Bescheidenheit müsste die Tugend derer sein, denen
die anderen fehlen.» Goethe kritisierte: «Nur Lumpen sind bescheiden, Brave
freuen sich der Tat.» Schopenhauer: «Bescheidenheit ist bei mittelmässigen
Fähigkeiten blosse Ehrlichkeit, bei grossen Talenten ist sie Heuchelei.» Und Hebbels Meinung zur Bescheidenheit: «Das Nichts glaubt, dadurch etwas zu
werden, das es bekennt: Ich bin nichts.» Für Ludwig Anzengruber ist
Bescheidenheit der Anfang aller Vernunft, und für Friedrich Nietzsche ist
die Moralität der Bescheidenheit Verweichlichung. Sie birgt die Gefahr, sich
allzu früh anzupassen, als ob wir selbst in uns kein Mass und Recht hätten,
Werte anzusetzen. Wir gehen den Begriff der Bescheidenheit in dieser Nummer
von verschiedenen Seiten an. Peter Feller, der Meister vom Stuhl der
Modestia cum Libertate, fragt sich, warum die Gründer den Begriff in den
Logennamen aufgenommen haben. Karl Mühlebach versucht am Beispiel eines
Märchens die Bescheidenheit zu erklären und Pierre Ed. Calame nähert sich
der Bescheidenheit aus psychologischer Sicht. Es wäre interessant, dazu auch
die Meinungen der Leser zu erfahren.
Alfred Messerli
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