Alpina 10/2004
Das Thema Ideal und Realität beschäftigt offenbar viele Freimaurer. Denn
noch nie habe ich so viele Zuschriften und Baurisse zu einem Thema erhalten
wie zu diesem. Viele Brüder machen sich Gedanken darüber, ob die Kluft
zwischen den freimaurerischen Idealen, die im Ritual im Tempel jeweils
beschrieben werden und der täglichen Realität nicht zu gross geworden ist.
Oder anders ausgedrückt: Der Kampf im täglichen Leben erlaubt es kaum noch,
dass man die maurerischen Ideale hochhalten kann.Waren sich die Gründerväter unseres Bundes dieses Zwiespaltes oder dieser
Kluft nicht bereits bewusst, als sie die drei Kleinen Lichter im Tempel so
aufstellten, dass das vierte Licht rund um den Arbeitsteppich leer blieb?
Wollten Sie damit nicht andeuten, dass nichts vollkommen ist und darum der
geistige Tempel auf drei Säulen ruht? «Weisheit leite den Bau», sagt der
Meister beim Anzünden des ersten Lichtes, «Stärke führe ihn aus», sagt der
erste Vorsteher und «Schönheit ziere ihn» der zweite. Die erste Säule,
Weisheit, ist die intellektuelle Tugend, die den Bau fördert, Stärke die
willenhafte und Schönheit die gestaltende Tugend. Die erste Säule, die dem
Meister vom Stuhl zugewiesen ist, symbolisiert das reine vollkommene Licht.
Weisheit darf nicht einfach mit Klugheit gleichgesetzt werden. Weisheit ist
mehr. Weisheit wird auch als die aus der richtigen Einschätzung der Dinge
und Menschen entspringende Lebenshaltung und Handlungsweise betrachtet, die
sich von der blossen Klugheit abgrenzt.
Der Stärke ist die Symbolik der Vernunft zugewiesen, denn sie ist «die
kreative Potenz zum Handeln». Wird Stärke ohne Vernunft angewendet,
entstehen Zerstörung und Gewalt statt Einsicht in das Ganze und
Vollkommenheit, was wir Freimaurer Erleuchtung nennen.
Die letzte Säule, dem zweiten Vorsteher zugewiesen, ist der Schönheit
gewidmet. Franz Carl Endres setzt Schönheit mit Harmonie gleich. «Beim
Anblick der dritten Säule bringen wir unsere Sehnsucht nach Einheit von
Wollen und Tun im Einklang mit der angemessenen Form zum Ausdruck. Zur
Abrundung der inneren Harmonie braucht es eine äussere Form, die diese in
ein harmonisches Gesamt-Erscheinungsbild kleidet.
So stellen uns die drei Lichter tragenden Säulen mitten in die Welt ins
pulsierende Leben. Sie erinnern uns daran, dass es der Weisheit bedarf, dass
die Stärke uns hilft, um die Harmonie, das Ideal im Leben, zu verwirklichen.
Und so werden wir uns auch immer wieder bewusst, dass wir Menschen mit
all unseren Fehlern und Widersprüchen sind, die den rauen Stein behauen, um
ihm die ewig gültige Form geben zu können. Dass wir aber diese ideale Form
des Steines ein Leben lang nicht erreichen können.
Alfred Messerli |