Was hat die Freimaurerei jüngeren Brüdern zu
bieten?
(Alpina 8-9/2009)
Der Titel dieses Studienthemas «Was hat
die Freimaurerei jüngeren Brüdern zu
bieten?» ist bewusst provokativ gewählt. Die
Provokation liegt nämlich in der Erwartungshaltung:
dass die Freimaurerei etwas bieten
muss. Natürlich tut sie dies auch, aber man
darf es nicht in abwartender Haltung verlangen.
Es ist erstens ein Geben und Nehmen
und zweitens ein gegenseitiger Prozess. Die
Jungen (sagen wir einmal in irdischen Jahren
ausgedrückt) lernen von den Alten, indem sie
zuhören (wie es sich für einen Lehrling
geziemt). Dabei werden sie Wissen aneignen,
das ihnen bisher verborgen geblieben ist. Die
Alten ihrerseits können von der Jugend wieder
die Eigenschaften aneignen, die ihnen
das Leben bisher abgeschliffen und wegerodiert
hat. Beides ist für ein erfülltes Leben von
prinzipieller Wichtigkeit. Das Studienthema
beschäftigt sich also mit Lernen, Austausch
von Ideen und Idealen. Oftmals werden abstrakte
Werte und Ideale in Modellen oder
Gleichnissen weitergegeben. Eine tragende
Rolle wurde in der Antike der Mathematik
zugeschrieben.
Im Buch «der Staat» entwickelte der Philosoph
Platon eine Ideenlehre, worin er im
sechsten Buch über die Mathematiker
schrieb: «… Sie behelfen sich mit sichtbaren
Figuren und untersuchen sie, denken
aber dabei nicht an die Figuren, sondern an
die Urbilder, denen sie gleichen; so untersuchen
sie das Viereck an sich und seine
Diagonale, aber nicht die gezeichnete, und
ähnlich bei allem anderen; die Gebilde, die
sie formen und zeichnen, von denen es
wieder Schatten und Abbilder im Wasser
gibt, diese gebrauchen sie nur als Abbilder
und suchen die Urbilder an sich zu erkennen,
die man nur durch das reine Denken
erkennt." (Übersetzung Karl Vretska, Buch
VI, 510 d+e). Die gedachten mathematischen
Formen der Dinge sind also die Ideale
sowohl im Gegensatz zu den Zeichnungen
als auch zu den Dingen selbst.
Wenn wir unseren jungen Brüdern (sei es in
weltlichen oder maurerischen Jahren
gerechnet) vom Arbeiten am rauhen Stein,
von den grossen und kleinen Lichtern
berichten, dann ist es ebenfalls metaphysisch
zu verstehen. Ein Sinnbild für Geisteshaltung
und Richtschnur für das eigene
Handeln. Bloss: wie vermitteln wir diese
Werte fassbarer, beGREIFbarer? Müssten wir
uns also nicht eher fragen «wie können wir
den Jungen das bieten, was die Freimaurerei
uns allen bietet?». Dann wird das Lernen zur
LebensERFAHRUNG oder wie es Diogenes
ausdrückt: «Bildung ist für die Jungen Weisheit,
für die Alten Ermutigung, für die Armen
Reichtum und für die Reichen Schmuck».
Adrian Bayard
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