Ist die Spiritualität noch zeitgemäss?
(Alpina 3/2010)
Spiritualität ist ein oft verwendetes und
vielfach falsch verstandenes Wort.
Zuerst einmal muss der Begriff streng
unterschieden werden von Spiritismus und
Spiritualismus. Ersteres umschliesst den
transzendentalen «Geisterglauben», der
versucht, Kontakt zum Jenseits (beispielsweise
zu Verstorbenen) herzustellen. Spiritualismus
versteht alles Leben jenseits
des Materiellen. Spiritualisten glauben an
das freie Wirken des Heiligen Geistes (lat.
Spiritus sanctus) in jedem Menschen; Voraussetzung
dafür sei aber ein gottverbundenes
Leben in einer Geisteshaltung
bedingungsloser Liebe und Wahrhaftigkeit.
Für Herder steht fest, dass die Spiritualisten,
«wenn sie denn einen reinen
Geist annehmen, unrecht haben: Einen
Geist, der ohne Materie wirkt, kennen wir
nicht». Nach Kant verlieren sich beide,
Materialisten und Spiritualisten, in der
«fruchtlosen, überschwenglichen Speculation
», die die Grenzen der Vernunft übersteigen;
«sie leisten nichts für die Erklärung
des Ichs als einer denkenden Substanz».
Was ist nun also Spiritualität? Gemäss
historischem Wörterbuch der Philosophie
gibt es dreierlei Bedeutungen: eine religiöse,
angewandt auf verschiedene
Aspekte des christlichen Lebens; zweitens
eine philosophische, welche die Seinsoder
Erkenntnisweise der immateriellen
Wesen bezeichnet sowie drittens als Überbegriff
für ein kirchliches Konstrukt und
dessen Funktionalität. Für uns Freimaurer
ist Spiritualität ein zweischneidiges
Schwert: sie soll uns Hilfe sein, das Wesen
einer Tatsache - jenseits des Materiellen –
(be)greifbar zu machen und zu würdigen.
Rituale können hierbei helfen, weil wir uns
aus der Routine schälen und plötzlich die
Quintessentia erkennen – sie bergen aber
manchmal auch die Gefahr des Sinnentleerten
und Mechanischen (50 Rosenkränze
runterrasseln). Spiritualität soll
jedoch niemals als «l’artpourl’art» verstanden
werden dürfen. Religiosität hat nur
dann eine Berechtigung, wenn sie universell,
also losgelöst von konkreten Glaubensrichtungen,
aufgefasst wird. Erst dann
wird deren Ausdrucksform für uns relevant.
Darüber hinaus zeigt sich uns die Spiritualität
im Alltag höchst vielfältig: indem
wir innehalten, uns besinnen, reflektieren,
meditieren (siehe letzte Nummer), indem
wir spazieren, Geschirr spülen, bügeln,
Zwiebel schälen, Blumen giessen, Musik
hören oder die Aufmerksamkeit auf ein
Kaminfeuer oder Kerzenlicht richten. Ist für
uns Spiritualität noch zeitgemäss?
Adrian Bayard
|