Harmonie und Gleichgewicht des Freimaurers
(Alpina 10/2012)

Ich sitze in einem idyllischen Cafe am Zocalo in Cuernavaca (Mexiko) und nippe an einem kühlen Bier. Mitten im Herzen dieser geschichtsträchtigen, alten Stadt spielt eine Mariachi-Gruppe alte Lieder, die von Sehnsucht, Liebe und gescheiterter Begierde handelt und manch einem gestandenen, stolzen Mexikaner trockene Tränen ins Gesicht treibt. Alles scheint seit Jahrhunderten so gewesen zu sein. Mitten in dieser schönen idyllischen, harmonischen Stadt auf diesem Platz, der sich durch eine Art Sockel etwas absetzt (deshalb wird er auch Zocalo genannt) und scheint, als wolle er eine Bühne für alle Menschen mit ihren Freuden und Leiden vereinen, scheint die Welt noch in Ordnung. Kinder spielen mit Ballonen und Ringen, Verliebte tauschen leidenschaftliche Blicke aus und Eltern schwelgen in alten (oder besser jungen?) Jahren während ihre Kinder innig an ihren übersüssen Schleckstengeln lutschen. Doch wenn es Abend wird über der Stadt, zerbricht diese idyllische Harmonie: Obdachlose beziehen ihre Stellung und Kriminelle umgarnen die einst so stolze Stadt als wäre sie eine Fliege im Netz der hungrigen Spinne. Harmonie, die vielerorts als erstrebenswert und positiv angesehen zu wird, hat oft zwei Seiten: sie kann darüber hinweg täuschen, was sich unter der Oberfläche befindet. Es ist dann nicht wirkliche Harmonie sondern bloss ein Deckmantel für etwas, was beim flüchtigen Erleben und Betrachten verborgen bleibt. Harmonie kann auch etwas statisches und bequemes beinhalten. Wenn Harmonie erreicht ist, wird dieser Zustand kaum freiwillig aufgegeben werden. Doch gerade grosse Errungenschaften wurden erst durch Disharmonie hervorgebracht und Missstände korrigiert. Wenn wir in der Freimaurerei nach Harmonie streben, dann nach erhoffter Einheit von Kosmos und irdischem Dasein. Wir erleben dies Mal für Mal im Ritual; sodann müssen wir diese Erkenntnis in unserem profanen Leben implementieren können - das heisst, einen harmonischen Austausch zwischen unserem Lehrlingsgrad und unserem Leben draussen finden. Übrigens: die Mariachis spielen immer noch ihre Lieder von Sehnsucht, Liebe und gescheiterter Begierde–und es klingt wunderbar.

Adrian Bayard 

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