Der A.B.A.W. – Dogma oder Interpretation?
(Alpina 12/2012)
Wieder einmal sitze ich im Bahnhofbuffet in Olten und warte. Der Zug hat Verspätung. Egal–wie so vieles heutzutage egal ist. Ich lese in der Zeitung, irgendeiner Zeitung (sie ähneln sich ja sowieso und beinhalten sowieso die selben Informationen). Ich lese über Fussball und Eishockey, Kriege um Erdöl und Kriege wegen Religionen und ich erfahre etwas über die neuerliche Brustvergrösserung einer nachrangigen Prominenten (einige sprechen von Ramsch- Promis–heruntergestuft von der Schweizer Illustrierten). Ich lege die Zeitung weg und nehme ein Buch hervor: «The God of Small Things» von Suzanna Arundhati Roy. Eigentlich lese ich die deutsche Version, aber es klingt besser, wenn ich den englischen Originaltitel nenne. Überhaupt machen wir uns vieles vor; sind nicht die, die wir eigentlich sind. Aber genau das ist es, was wir uns zum Lebensinhalt machen, das Behauen des rauhen Steins bedeutet: daran zu arbeiten, dass wir uns nicht allzu wichtig nehmen–gerade so viel wie die Würde vor uns selbst verlangt, aber nicht so viel, dass die Würde des Anderen beeinträchtigt wird. Insofern ist meine und aller Religionszugehörigkeit komplett irrelevant. Sie ist intrapersonell. Alles andere ist anmassend und Zeugnis unserer Selbstüberschätzung. Wie können wir einen absoluten Anspruch auf alleinige Richtigkeit erheben, wenn andere das eben falls austiefster Überzeugung so empfinden? Wer trägt den ursprünglichen Ring? – Es ist nicht wichtig. Wichtig ist lediglich, dass wir an eine höhere Macht glauben. Und diese gebietet uns Toleranz - die wohl grösste Errungenschaft einer Kultur. Ferner dürften eigentlich auch Grundeigentum und Autobiografien nicht sein; ersteres überdauert unser irdisches Dasein und letztere erheben uns über unseren Todhinaus. Wir sind Lebewesen, die auf dieser Erde lediglich geduldet und zu Gast sind. Auch sind wir gehalten, sorgsam mit unserer Umwelt umzugehen – sie ist grösser und mächtiger als wir! Die Zufriedenheit entspringt im Kleinen. Überall steckt der Allmächtige Baumeister aller Welten, und jedes mal wenn wir ihn im Kleinen entdecken, beglückt uns das Leben: Eine schöne Landschaft, gute Gespräche oder ein gutes Buch. Mein Zug trifft mit fünf Minuten Verspätung ein – Schön, denn es gibt überhaupt einen Zug.
Adrian Bayard
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