Was ist und will die Freimaurerei?

6. Schwächen und Stärken

Selbstverständlich kennt auch die Freimaurerei ihre Schwachstellen. Ich denke hier beispielsweise daran, dass sie relativ stark von ihrer Vergangenheit zehrt, sich gegenüber wichtigen Zeitfragen und der Öffentlichkeit aber gerne in vornehmer Zurückhaltung übt. Zu schaffen geben ihr zuweilen auch ihre organisatorischen Strukturen mit der Grossloge von England als Ordnungs- und Moral­hüterin des weltweiten Bundes und die massgeblich bestimmt, was richtige und falsche Freimaurerei ist. Für unbefrie­digend gelöst halte ich ferner das Problem der Frauen-Beteili­gung; hier ist aber gleich anzufügen, dass es auch gemischte und reine Frauenlogen gibt, doch unterstehen sie nicht der hier besprochenen weltweiten Gemeinschaft. Zudem darf man sich fragen, ob die Verzette­lung durch ver­schiedene Grad-Systeme die Vereinigung insgesamt nicht eher schwächt als stärkt. Schliess­lich lauert in ihren Ritualen meines Erachtens die Gefahr, in routinehaftem Formalismus zu erstarren.

Dennoch hat die Freimau­rerei seit ihrer Gründung eine er­staunliche Regenerations­kraft bewahrt. Persönlich halte ich die eigenarti­ge Verbindung von Mittelalter und Aufklä­rung, von Esoterik und Exoterik, von Elementen, die sowohl an die Vernunft wie an das Gemüt appel­lieren für ihre herausragendste Leistung und für ihre eigentliche Stärke. Es gibt nur wenige Einrichtungen, die zugleich aus dem grossen Schatz vergan­ge­ner Kulturen und Epochen schöpfen, diesen in der Gegen­wart er­fahrbar machen und als zeitlos gültige Vision auch für die Zukunft pflegen lassen. Und es gibt kaum eine andere weltum­spannende Vereini­gung, die auf eine so lange Tradition im Verfechten grundlegender Menschenrechte zu­rückblicken könnte. Schliesslich findet sich keine ver­gleichbare Organisation, die so umfassend darauf ausgerich­tet wäre, das Indi­viduum immer wieder und über verschiedene Erfahrungsebenen auf seine innerste Natur und auf die Kernfragen des Lebens, seines Woher, Wozu und Wohin zu­rückzu­führen und ihn zugleich in die Pflicht zu nehmen gegenüber sich selbst und der Gemein­schaft. Dank der besinn­lichen und geselligen Begeg­nung von Men­schen ver­schie­den­ster Herkunft wird ferner in ihrem Kreise das Ideal der grenzüber­schrei­ten­den Bruder­kette doch mehr als eine Floskel, sondern direkt erleb­ba­re Wirklichkeit oder zumindest zu einem prakti­schen Übungsfeld für jene Tugenden, die mehr denn je nötig sind, um dem alten Traum eines verträglichen Zusammenlebens der Menschen näher zu kommen. Ich denke, dies sei in einer Welt, die vor gewaltigen Herausforderungen steht, nicht wenig. Aber auch die Freimaurerei selbst ist aufgerufen, sich dem gesellschaftlichen Wandel zu stellen, will sie mit ihren zeitlosen Idealen auch in Zukunft bestehen und glaubwürdig bleiben. 

Marco Badilatti, Altstuhlmeister der
Loge Modestia cum Libertate (Zürich)