Selbstverständlich kennt auch die Freimaurerei ihre Schwachstellen. Ich denke hier beispielsweise daran, dass sie relativ stark von ihrer Vergangenheit zehrt, sich gegenüber wichtigen Zeitfragen und der Öffentlichkeit aber gerne in vornehmer Zurückhaltung übt. Zu schaffen geben ihr zuweilen auch ihre organisatorischen Strukturen mit der Grossloge von England als Ordnungs- und Moralhüterin des weltweiten Bundes und die massgeblich bestimmt, was richtige und falsche Freimaurerei ist. Für unbefriedigend gelöst halte ich ferner das Problem der Frauen-Beteiligung; hier ist aber gleich anzufügen, dass es auch gemischte und reine Frauenlogen gibt, doch unterstehen sie nicht der hier besprochenen weltweiten Gemeinschaft. Zudem darf man sich fragen, ob die Verzettelung durch verschiedene Grad-Systeme die Vereinigung insgesamt nicht eher schwächt als stärkt. Schliesslich lauert in ihren Ritualen meines Erachtens die Gefahr, in routinehaftem Formalismus zu erstarren.
Dennoch hat die Freimaurerei seit ihrer Gründung eine erstaunliche Regenerationskraft bewahrt. Persönlich halte ich die eigenartige Verbindung von Mittelalter und Aufklärung, von Esoterik und Exoterik, von Elementen, die sowohl an die Vernunft wie an das Gemüt appellieren für ihre herausragendste Leistung und für ihre eigentliche Stärke. Es gibt nur wenige Einrichtungen, die zugleich aus dem grossen Schatz vergangener Kulturen und Epochen schöpfen, diesen in der Gegenwart erfahrbar machen und als zeitlos gültige Vision auch für die Zukunft pflegen lassen. Und es gibt kaum eine andere weltumspannende Vereinigung, die auf eine so lange Tradition im Verfechten grundlegender Menschenrechte zurückblicken könnte. Schliesslich findet sich keine vergleichbare Organisation, die so umfassend darauf ausgerichtet wäre, das Individuum immer wieder und über verschiedene Erfahrungsebenen auf seine innerste Natur und auf die Kernfragen des Lebens, seines Woher, Wozu und Wohin zurückzuführen und ihn zugleich in die Pflicht zu nehmen gegenüber sich selbst und der Gemeinschaft. Dank der besinnlichen und geselligen Begegnung von Menschen verschiedenster Herkunft wird ferner in ihrem Kreise das Ideal der grenzüberschreitenden Bruderkette doch mehr als eine Floskel, sondern direkt erlebbare Wirklichkeit oder zumindest zu einem praktischen Übungsfeld für jene Tugenden, die mehr denn je nötig sind, um dem alten Traum eines verträglichen Zusammenlebens der Menschen näher zu kommen. Ich denke, dies sei in einer Welt, die vor gewaltigen Herausforderungen steht, nicht wenig. Aber auch die Freimaurerei selbst ist aufgerufen, sich dem gesellschaftlichen Wandel zu stellen, will sie mit ihren zeitlosen Idealen auch in Zukunft bestehen und glaubwürdig bleiben.
Marco Badilatti, Altstuhlmeister der
Loge Modestia cum Libertate (Zürich)